„Fantasie ist ein Fitnessrad für den Geist. Es mag dich nirgendwohin bringen, aber es baut die Muskeln auf, die es können.“ (Terry Pratchett)
Worauf hoffen? Diese Frage ist der rote Faden unserer Spielzeit im Staatstheater Darmstadt. Und die Frage scheint mir brennend aktuell. Als Theater wollen wir ein Raum sein, in dem die Fantasie trainiert werden kann, in dem Perspektiven und Meinungen aufeinanderprallen. Im Theater können Menschen immer neu üben, sich in andere Menschen hinein zu versetzen und gut zu streiten. Und natürlich wollen wir Sie gut unterhalten.
Wir haben keine besseren Antworten als Sie. Wir wollen Sie nicht belehren. Aber wir haben ein großartiges Privileg, für das wir zutiefst dankbar sind: Wir dürfen für Sie tolle alte und neue Kunstwerke auf die Bühne bringen. Sie und wir können diese Kunstwerke, diese Geschichten, Situationen, Musiken, Tänze und Bilder befragen, was sie uns erzählen über das Leben und die Gegenwart. Im Theater, in der Kunst, werden im Spiel und in der Fiktion die Welt erkundet. Und weil es Spiel ist, können Menschen darin etwas für die Wirklichkeit üben und erfahren.
Spätestens seit der Wahl in den USA und vor der Bundestagswahl in Deutschland aber sehen wir noch etwas anderes: Schockierend viele Akteure in Politik und öffentlichem Raum auf der ganzen Welt arbeiten daran, die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufzulösen. Spiel, Fantasie und das Erzählen von fiktiven Geschichten dienen oft nicht mehr (wie in der Kunst) dazu, über die Realität nachzudenken, sondern sollen diese Realität verändern.
„Eine Lüge kann einmal um die ganze Welt laufen, bevor die Wahrheit ihre Stiefel angezogen hat.“
„Das Problem mit einem offenen Geist ist, natürlich, dass Leute darauf bestehen werden, anzukommen
und zu versuchen, Dinge hineinzustecken.“
„Die Wahrheit mag da draußen sein, aber die Lügen sind in deinem Kopf.“
Auch all das hat Terry Pratchett geschrieben. Und wenn die Lüge als Wahrheit in unserem Kopf angekommen ist, wird es gefährlich. Weltweit werden Demokratie, Menschenrechte, die Freiheit des Wortes, die Pressefreiheit, die Wahrheit unter enormen Angriffen zurückgedrängt. Besonders wirksam bei diesen Angriffen sind Bilder und Geschichten. Bilder und Geschichten erreichen andere Schichten unserer Existenz, sie erreichen anders unsere Gefühle als Argumente.
Auf der Ebene der Argumente kann ich sagen: Ich verstehe nicht, wie so viele arme Menschen in den USA Trump wählen konnten, einen Milliardär, dessen Politik sie noch ärmer machen wird. Auf der Ebene der Geschichten kann ich etwa von der Soziologin Arlie Russell Hochschild (die an der University of California in Berkeley dazu forscht) hören, wie sich viele dieser Menschen in den abgehängten ehemaligen Industriegebieten ihr Leben erzählen: Sie sind aufgewachsen mit dem Glauben, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Also fühlen sie sich selbst für ihre Situation verantwortlich. Sie empfinden Scham für ihre Armut. Und obwohl sie enorm kämpfen, bleiben sie arm. Ihre Handlungen führen zu nichts. Die meisten Menschen hassen, wenn sie sich nicht als wirksam empfinden und sie hassen, sich zu schämen. Jetzt bietet ihnen Donald Trump eine der ältesten und wirksamsten Geschichten an: die Geschichte vom Sündenbock. Migranten sind Schuld an ihrem Unglück, das Establishment, der „Deep State“. Viele dieser Menschen glauben gar nicht mehr, dass sie mit Trump mehr Geld haben werden. Aber Trump hat ein Angebot für diese Menschen. Er sagt: Ich bin auch ausgeschlossen vom Establishment, aber zusammen mit euch bin ich stark. Zusammen können wir gegen die kämpfen, die an eurem Unglück schuld sind. Mit mir müsst ihr euch nicht mehr schämen, müsst euch nicht mehr ohnmächtig fühlen.
Und falls Sie denken, so schlimm ist es ja bei uns noch nicht: Unendlich viele Menschen in den USA und auf der ganzen Welt dachten auch, Donald Trump 2016 war eine Ausnahme – bis zur US-Wahl im November. Gehen Sie einmal ein paar Stunden auf TikTok, X, Instagram oder neue rechte Medienseiten und schauen, wie fürchterlich gut viele Filme, Podcasts und Erzählungen sind, die Populisten und Demokratie-Feinde dort zum Beispiel für junge Menschen andauernd mit Erfolg platzieren. Unendlich viele junge Menschen lernen daraus etwas über die „Realität“ und die Politik.
Es gibt viele eingeübte Argumente und Rituale zur Verteidigung der Demokratie und unserer Werte. Was aber, wenn die Feinde der Freiheit wirkungsvollere Geschichten erzählen? Wenn Populisten und Demagogen besser und kreativer sind in Psychologie, Kampagnen, Vernetzung, in dem Spiel mit Wahrheit und Lüge, im Spiel mit Emotionen und im Geschichtenerzählen. Deshalb sollen die Verteidiger von Demokratie und Freiheit nicht anfangen, zu lügen. Aber ich denke, es wird nicht reichen, zu sagen, was die Politik anders machen soll. Demokratie und Freiheit brauchen die kraftvolle Unterstützung von allen, denen sie etwas bedeuten. Und wir sollten daran mitwirken, unser System und unsere Werte nicht nur defensiv zu verteidigen, sondern ohne Angst kraftvoll neu zu gestalten. Darin, so glaube ich, müssen wir noch viel engagierter, kreativer und emotionaler werden.
Aber das ist nur meine Meinung. Ich sage sie nicht, damit Sie mir zustimmen. Sondern weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir gut streiten, auf der Bühne, im Foyer und überall in der Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir nicht unter Gleichgesinnten bleiben und froh sind, dass alle nicken, wenn wir etwas sagen. Es ist wichtig, so neugierig und empathisch zuzuhören, wie die Soziologin Hochschild. Nur dann erfahren wir etwas von Menschen, die anders denken und fühlen als wir selbst. Und nur eine gelebte, streitbare offene Gesellschaft, lässt erleben, warum Demokratie attraktiv sein kann und nicht nur anstrengend.
Dafür soll unser Theater ein Ort sein. Ich danke Ihnen für Ihre Neugier und Ihre Treue. Und ich hoffe, wir sehen Sie oft! Und was wir nie vergessen sollten: Es geht der Welt nicht besser, wenn wir uns sorgen und leiden und es geht ihr nicht schlechter, wenn wir persönlich gesund und glücklich sind.
- Intendand Karsten Wiegand