02. Dezember 2023
In Zeiten des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland und der Welt hat sich Karsten Wiegand, der Intendant des Staatstheaters Darmstadt, zu etwas Beispiellosem entschlossen: Er ändert kurzfristig den Spielplan des Theaters, um „Pnima“, meine Oper aus dem Jahr 2000, als eine Form des Protests auf die Bühne zu bringen. Innerhalb von zwei Monaten soll „Pnima“ produziert und am 27. Januar 2024 aufgeführt werden. Diese Initiative unterläuft alle üblichen Betriebsmechanismen von Opernproduktionen.
Ich bin Karsten Wiegand zutiefst dankbar für seinen Mut und seine Idee, dass Kunst zur realen Welt sprechen kann, und habe größten Respekt vor seiner Position und Sichtweise. Ich bin auch dem Darmstädter Staatstheater und allen Beteiligten dankbar, die sich so kurzfristig bereit erklärt haben, die nächsten zwei Monate dieser Produktion unter unberechenbaren Bedingungen zu widmen.
Gleichzeitig ist mir klar geworden, dass es mir auch wichtig ist, meine eigene Sichtweise auf mein Werk „Pnima“ und dessen Bezug zur aktuellen Situation zu beschreiben. Hier ist sie:
In „Pnima“ geht es um die Weitergabe von Traumata. Mein Werk umkreist das Thema ständiger Versuche, über Trauma zu sprechen. Es geht um das Schwären und Eitern unverarbeiteter Traumata, um ihre Vererbung von Generation zu Generation.
Es geht mir dabei mit absoluter Sicherheit nicht nur um das Trauma des jüdischen Volkes. Ich habe das Trauma meiner eigenen Biografie verwendet, weil ich es kenne. Es handelt sich jedoch um ein universelles Thema, das alle Menschen angeht.
Ich möchte drei sich gegenseitig ergänzende Betrachtungen anstellen.
Eins
Empathie kennt nicht Rasse, Religion oder Nation. Sie fühlt echten Schmerz und spürt Traumata auf. Empathie ist kein Aufruf, sich im Schmerz zu suhlen. Vielmehr ist sie ein tiefer Schrei, der uns dazu bewegt, den Schmerz anderer Menschen und dann auch unseren eigenen Schmerz zu erkennen. Unerkannte traumatische Wunden, die nicht behandelt werden, können zu einer Infektion werden, die sich von passiv zu aktiv wandeln, oder sogar aggressiv werden kann - in einer schrecklichen, unvermeidlichen Mutation. Opfer werden dann zu Unterdrückern, die ihre eigenen Qualen und ihr eigenes Leid anderen auferlegen.
Ein Trauma ist ein unvorhersehbares und gefährliches Erbe, das sich durch seinen eigenen Schmerz selbst am Leben erhält, während es immer größere Gebiete und immer mehr Menschen infiziert und zu einer Seuche wird. Doch wenn man das Leiden des anderen anerkennt, kann man die Metamorphose von Opfern zu Tätern aufhalten. Mehrere Perspektiven zu sehen und zu verstehen schärft den Fokus des eigenen Blicks und stoppt das Bluten... Echte Empathie ist eine Art Antikörper gegen weiteres Leid.
Zwei
Extreme Positionen sind unglaublich attraktiv. Graustufen sind viel weniger anziehend. Die sozialen Medien fordern uns dazu auf, unsere Gewissheiten über die Dächer zu schreien. Sie arbeiten hauptsächlich mit strikten Binaritäten. Aber nichts ist wirklich binär... Wenn man die israelische Regierung kritisiert, ist man nicht zwangsläufig antisemitisch, und wenn man sich um das Leben der Palästinenser sorgt, muss das nicht bedeuten, dass man sich nicht um das Leben der Israelis sorgt. Soziale Medien sind schnell, unmittelbar und effektiv. Sie wollen schreien. Sie sind nicht bereit, zuzuhören. Sie können auch Schmerz vorrübergehend lindern. Im Vergleich dazu sind die Kräfte der Empathie viel langsamer, weniger offensichtlich und zögerlicher. Empathie ist der Boden, auf dem Dinge wachsen können, aber wer schaut schon auf den Boden? Muss er überhaupt gedüngt werden?
Drei
Wenn eine Situation eskaliert, scheint alles dringend zu sein - wir verlangen nach einem klaren Schnitt, nach Gewissheit... Der aktuelle Diskurs fordert eine sofortige Antwort: "Was ist die rote Linie?" Die Realität kreischt: "Auf welcher Seite stehst du?" - "Du musst dich für eine Seite entscheiden!“ - "Bist du ein Wurm oder eine Person?“ - Würmer werden unter den heutigen Bedingungen leicht zerquetscht, dabei sind sie so wichtig für den Boden und seine Produktivität...
In diesen dunklen Tagen gibt es ein paar Punkte der Gewissheit:
Das Leben von Israelis und Palästinensern muss geschützt werden, und zwar unter voller Beachtung der Menschenrechte.
Alle unschuldigen Zivilisten müssen geschützt werden.
Um das Schwären und Eitern des Traumas zu stoppen, muss man anfangen zu reden und das Töten stoppen.
Babys sind unschuldig, genauso wie Teenager.
Die meisten Menschen möchten einfach nur leben und gedeihen.